21.5.12

Schuhe, Dreck und Moral

Zapatos viejos ('Alte Schuhe') - Cartagena, Kolumbien

In einer meiner ersten Kindheitserinnerungen sehe ich meinem Großvater zu, wie er im Hof seines Hauses, in einer Stille versunken, die ich heute nur als fromm beschreiben kann, seine Schuhe abwischt, eincremt, bürstet und poliert. Dies geschah jeden Tag und auch nicht selten fragte er, der sonst wenig sprach, irgendeinen Vertreter seiner zahlreichen Nachkommenschaft, ob er auch seine Schuhe putzen sollte. Wenn einer von uns sein Angebot nicht ganz apathisch entgegennahm, dann bemühte er sich, einem zu zeigen, wie Schuhe zu pflegen sind. Der Mann liebte saubere Schuhe.

Er war lange Jahre Polizist in Bogotá gewesen, in einer vergangenen Zeit, in der der Beruf noch als ehrenwert galt. Mit Eifer hatte er es bis zum Sergeant geschafft – für den Sohn einer armen kolumbianischen Provinzfamilie keine Selbstverständlichkeit. So liegt es auf der Hand, dass die Gewissenhaftigkeit, mit der er sich der täglichen Pflegeaktivität widmete, aus jenem Kant’schen Pflichtbewusstsein entsprang, das allen militärischen Berufen zugrunde liegt.

Für jeden, der meinen Großvater bei der Erfüllung der Sauberkeitsnorm aufmerksam beobachtete, musste es aber auch klar sein, dass er dabei eine Lebhaftigkeit verkörperte, die mit mehr als nur preußischem Quatsch zu tun hatte. Konrad Adenauer hat dieses besondere Gefühl einmal erklärt (offensichtlich ist auch er ein freudvoller Schuhputzer gewesen): „Das Glück besteht nicht in großen Erfolgen oder in der Sicherung des einmal Erreichten. Das Glück besteht allein in der Pflichterfüllung“. So weiß ich heute, ich, der selbst jahrelange, behagliche Erfahrung im Bereich der Schuh-Hygiene hat machen dürfen, dass es meinem Großvater nicht nur um die blinde Beachtung irgendeines kategorischen Imperativs ging. Schuhputzen war für ihn auch eine Sache der Lebensfreude.

Nun ist mein Großvater tot, und weitere entscheidende Erinnerungen an ihn habe ich leider nicht. Ich kann daher nicht wirklich sagen, dass ich von ihm für andere Aspekte meines Lebens vieles gelernt habe. Auch nicht von Konrad Adenauer. Aber eins, was ich nie vergessen werde, wurde mir ohne große Worte offenbart: wie man Schuhe richtig putzt – und wie viel Glück das dem Menschen bereiten kann.

Die Aufrichtigkeit und die Vorteile des sauberen Äußeren sind, von
mehr oder weniger asketischen Persönlichkeiten aber auch von anderen, die eher als mondän gelten, häufig gepriesen worden. Der Ur-Dadaist Walter Serner zum Beispiel, der alles immer besser zu wissen schien, empfahl in seinem lehrreichen Handbrevier für Hochstapler (1927) gleich zweimal: „Reinige dich stets gewissenhaft. Täglich kann dir das Glück nahen“ und: „Schmutzig einherzugehen darfst du dir nur in sehr gefährlichen Fällen gestatten“. Andy Warhol stellte fest: „Du brauchst nur die richtige Einstellung, die richtige Kleidung – und sauber zu sein“. Und für F. Scott Fitzgerald war Sauberkeit eine Tugend, ein Symbol der Rechtschaffenheit. In Die Schönen und Verdammten (1922) dokumentiert er die Verfallsgeschichte eines jungen, nichtstuerischen reichen Paares. Am Anfang des Romans lesen wir über den (Anti)Helden Anthony Patch: „Überdies war er, der Erscheinung nach und in Wirklichkeit, sehr reinlich, und zwar von jener besonderen Reinlichkeit, die von der Schönheit borgt“. Am Ende, als die Eheleute ihren moralischen Untergang im großen Stil vollbracht hatten, beschreibt ein Mädchen Anthonys Gattin, die ehemalige Schönheit Gloria, mit den Worten: „Ich kann sie nicht ausstehen, weißt du. Sie kommt mir so – so gefärbt und unsauber vor, falls du weißt, was ich meine“…

Ob tugendhaft oder nicht, scheint heute die adrette Manier des sauberen Aussehens, insbesondere was das Schuhwerk angeht, etwas – um es vorsichtig zu formulieren – entkräftet zu sein. Es reichen ein paar U-Bahnfahrten (und eine feige versteckte Kamera) aus, um die verbreitete Geringschätzung der Schuhputzpflicht zu verifizieren, deren Erfüllung meinem Großvater ein beglücktes Leben beschert hat. Menschen aller Couleur, Konfession und Alter; tausende, vielleicht Millionen von Menschen, die sonst (relativ) gepflegt wirken, laufen in dreckigen Schuhen herum. Warum?



Beweise

Manchen wird es überspitzt erscheinen, Gründe für ein Verhalten zu suchen, das bloß als unreflektierte, absichtslose Schlampigkeit beschrieben werden könnte: nicht alles ist ein Symptom von irgendetwas. Andere werden auf den Fortschritt der Modebranche verweisen: In dieser großen Zeit, in der Stoff-, Leinen-, Lederschuhe (aus bekannten Ursachen) so gut wie nichts kosten, warum sollte man auf die dürftige Idee kommen, sie zu pflegen? Da sie folgerichtig nicht mehr halten, kommt man sowieso auch nicht dazu, ein Paar Schuhe putzen zu müssen, wenn schon ein neues gekauft werden muss!

Das mag stimmen. Und doch geben oft unsere Anziehgewohnheiten von uns viel mehr preis, als uns selbst bewusst ist. In diesem Sinne, einige Hypothesen über zwei – merkwürdig gegensätzliche – seelische Anlagen, die sich hinter manch schmutzigem Schuh verbergen:


* Der Hang zur Natürlichkeit. Zwei Beispiele: ein Freund findet es dekadent, Hemden zu tragen und schlimmer: sie davor zu bügeln. Eine Freundin hält Männer, die die kleinliche Konvention pflegen, (nicht-geruchsneutrales) Deo zu benutzen, für völlig affektiert, unappetitlich und passé. In beiden Fällen – auch wenn in ungleicher Stärke – scheint das altertümliche Vorurteil zu agieren, die Sorge um das Äußere sei bloß die Sorge um die Oberfläche und bekunde eine Vernachlässigung (oder gar die Abwesenheit!) des ‚wahren’ Inneren. Das glatte Hemd, der selbstpolierte Schuh sind spießig, verlogen. Die schmierigen Arbeiterstiefeln, die rohe Achsel, ein Zeichen der Freiheit und vielmehr: der Authentizität.

Es geht dabei um eine zeitgemäße Version der frühneuzeitlichen Passion für den ‚edlen Wilden‘. Und auch hier wird moralisch interpretiert: in umgekehrter Fitzgerald’scher Manier wird natürliche Schmuddeligkeit für ehrwürdig gehalten: nur wer ein bisschen schmuddelig aussieht, und womöglich riecht und schmeckt, kann echt echt sein. Ein dubiöses Verfahren, das dennoch eine – einigermaßen – ansehnliche Genealogie hat. Zu ihr gehören breite Zweige der ökologischen Bewegung, der Hippismus und Dr. Gustav Jägers Normalkleidung an der Jahrhundertwende.

* Die Vorliebe fürs ‚Trashige’. Der prominenteste Präzedenzfall dieser postmodernen Neigung ist die Punkkultur mit ihrer Vereinigung von ästhetisch Aggressivem und sozialer Subversion. Den dekadenten Werten der bürgerlichen Gesellschaft stellt man ein provozierendes Auftreten und eine subversive Kleiderordnung entgegen.

In ihrer unpolitischen, vielleicht naivsten Form – die an anderer Stelle ausführlich kommentiert wurde – drückt aber diese Vorliebe fürs äußerliche Grobe keine gesellschaftskritische Einstellung mehr aus, sondern vor allem ein modisches Statement.


Beispielhaft für diese Geste der Rebellion als Lifestyle und Coolness sind zwei in ihrer Natürlichkeit eloquente Kommentare eines Sartorialist-Bilds. Eine enthusiastische junge Leserin bemerkt: “Amazing boots! Very inspiring and smells like freedom style”. Eine andere schreibt großbuchstabenlos: “this is my favorite look for boots. a little dirty, grunge, DGAF kind of attitude, but still stylish in that unexpected way”...

Unter den vielen Manifestationen dieser ‚DGAF‘-Mode der Nonchalance ist das Phänomen der verkommenen Boots besonders beliebt und verbreitet, wie man hier deutlich sehen kann.


© HDCA, 2012