20.8.12

Walter Serner über „Kleidung und Manieren“

Walter Serner (1889-1942)

„Huren machen oft während des Stehens oder beim Umkehren Bewegungen mit dem Absatz, die auf den ersten Blick die Straßen-Habituée verraten. Hast nicht auch du kleine Gewohnheiten, die mehr von dir preisgeben, als rätlich ist?“

So fragt Walter Serner, der Ende August vor siebzig Jahren starb, in seinem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen (1927). Ob es in diesem Handbuch noch etwas zu lernen gibt? Durchaus: am Ende dieser Einleitung sind einige erbauliche Fragmente zu „Kleidung und Manieren“ zu finden.

Das Handbrevier wird oft als frecher, unverblümter, nihilistischer Leitfaden für Angeber beschrieben. Ein Herausgeber nennt es einen „Knigge für Zyniker“, der „in jeden Smoking gehört“. Vergisst man den Tratsch für eine Sekunde, bleibt eine Tatsache: so wie es Moralisten gibt (Pascal, La Rochefoucauld – und den Dr. phil. Jakob Fabian), gibt es auch Amoralisten. Sie sind nicht weniger an der Ethik interessiert als die Moralisten, und auch ihnen brennt die Frage unter den Nägeln, wie denn zum Teufel man zu leben hat. Und so ist die Kunst von Serners Handbrevier für Hochstapler weniger eine Trick-Kunst als eine Gesellschaftskunst. Und mehr als das – Stichwort: zôon politikonist sie Lebenskunst. Zwei angesehene Vorfahren des Handbreviers: Ovids Ars amatoria und Baltasar Graciáns Handorakel (1647).

Walter Serners Leben war – um das Mindeste zu sagen - abenteuerlich. Am 15. Januar 1889 als Sohn jüdischer Eltern in der tschechischen Stadt Karlsbad (heute Karlovy Vary) geboren, studierte er Jura in Wien und Greifswald. Dass er die Staatsprüfung bestehen konnte, hatte er, laut seinem eigenen Bericht, nur Ovid zu verdanken: „ich brachte nämlich das Gespräch auf ihn, und da meine Examinatoren Menschenkenner waren und echte Humanisten, wurde ich doctor utriusque juris“ (aus Serners zweiseitiger Autobiographie: „Ich“ [1925]).

1911 ging Serner nach Berlin, wo er sich vierzehn Tage hindurch langweilte, „weil ich nachts schlief“. (Später wurde es besser: „Als ich anfing, es umgekehrt zu halten, amüsierte ich mich drei Jahre…“). In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lebte er auch zeitweise in Karlsbad und Paris. 1915 zog er, wie viele Kriegsgegner und pazifistische Künstler jener Zeit, nach Zürich.

In Zürich lernte Serner den Maler Christian Schad kennen, der zu seinem engsten Freund wurde, und schloss sich 1917 dem Mouvement Dada an, das ein Jahr zuvor von Tristan Tzara, Hugo Ball, Hans Arp u.a. im legendären „Cabaret Voltaire“ gegründet worden war. Die Dadaisten, die eine der ersten und wichtigsten Avantgardebewegungen des 20. Jh. bildeten, wehrten sich bekanntermaßen gegen die Werte der bürgerlichen Gesellschaft mittels irrwitziger Sprach- und Kunstexperimente, sowie clownesken Geschreis. (Diese werden in Schads wunderbaren Erinnerungen an Serner lebhaft beschrieben: Relative Realitäten [Augsburg: MaroVerlag 1999].)

1918 schrieb Serner in Lugano die Letzte Lockerung – Manifest Dada, das aber erst 1920 veröffentlicht werden konnte (später wurde sie zum ersten Teil des Handbreviers). Inzwischen hatte sich Tzara des Inhaltes der Letzen Lockerung großzügig bedient (Schad und André Breton sagten es deutlicher: es ging einfach um ein Plagiat von Serners Manifest vonseiten Tzaras) und sein eigenes Dada Manifesto veröffentlicht (1918), wodurch er in Paris zum größten Guru des Dadaismus wurde. Serner entfernte sich von den Dadaisten um Tzara, fing ein äußerst unstetes Reiseleben an (oder besser: setzte es fort) zwischen Spanien, Frankreich Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz – und wandte sich der Kriminalliteratur zu.

Serners erzählerisches Werk kann in vier Kategorien eingeteilt werden: i) Gauner-Geschichten, ii) Prostituierten-Geschichten, iii) Zuhälter-Geschichten, iv) Liebesgeschichten zwischen Prostituierten und Zuhältern. Seine literarischen Werke sind vier Bände „hanebüchener Geschichten“, der mehr oder weniger berühmte Zuhälterroman Die Tigerin – Eine absonderliche Liebesgeschichte (1925; verfilmt 1992), und das Gaunerstück Posada oder Der große Coup im Hotel Ritz, das im März 1927 im Berliner Theater am Zoo aufgeführt wurde – nämlich einmalig, denn wie es in der späteren Buchausgabe steht, wurde „gegen die Absicht der Direktion, die Aufführung zu wiederholen … von der Polizeibehörde Einspruch erhoben“.

Serners Ruf war nie besonders gut – was ihm eine Zeit lang nicht missfiel. Sein Verleger Paul Stegemann schilderte ihn mit folgenden Worten: „Er ist internationaler Hochstapler im allergrößten Stil. Seine Lehrjahre verlebte er in Paris als Zuhälter. In seinen Büchern steht nichts, was nicht gelebt wurde“ usw. Als ihm das Pflaster zu heiß wurde, dementierte Serner dies in der erwähnten Autobiographie. Bald aber standen seine Werke auf den Listen der „Schund- und Schmutzschriften“ unterschiedlicher Landesjugendämter. (1931 konnten nur Gutachten von Alfred Döblin und Max Herrmann-Neisse das Verbot der Tigerin verhindern.)

1925 schrieb der berühmte Kritiker Theodor Lessing eine lobende Rezension der Bücher Serners. Daraufhin veröffentlichte Alfred Rosenberg, Ideologe der NSDAP, ein Artikel gegen Lessing und Serner, der mit den Worten schließt: „Leben heißt für den Juden: Moder schaffen und als Wurm in ihm wirken“. (Lessing wurde 1933 von nationalsozialistischen Attentätern erschossen.) Der Krieg war also erklärt. 1927 schrieb Serner an Christian Schad: „ich werde so gehasst, man arbeitet so sehr gegen mich, dass ich anfange, die Sache ekelhaft zu finden“, weshalb er sich bald „abzukehren“ plante. Das tat er auch: kurz darauf hat sich Serner fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen (Auch Schad hat nie wieder von ihm gehört.)

Man weiß, dass Serner 1929 in tschechischen Hotels wohnte. Man weiß, dass er Anfang der dreißiger Jahre aus der Schweiz korrespondierte. Was danach passierte, war lange ungewiss. In seinen Erinnerungen schreibt Schad:

„Für möglich halte ich, dass Serner in die U.S.A. gegangen ist. … Eine andere Legende wieder lässt ihn in Südamerika ein abenteuerliches oder auch bürgerliches, auf jeden Fall literaturfreies Leben führen, ähnlich dem Rimbauds. Oder sollte er … vielleicht doch den Entschluss gefasst haben … unter anderem Namen eine bürgerliche-juristische Existenz zu akzeptieren.“

Heute wissen wir mehr. 1938 heiratete Serner die Berlinerin Dorothea Herz. Mit ihr ließ er sich in Prag nieder, wo er als Sprachlehrer arbeitete. Nach der Besetzung durch die Nazis stellte das Ehepaar zwei mal Ausreiseanträge nach Shanghai, die abgelehnt wurden. Serner und seine Frau lebten im Prager Ghetto bis 1942. Am 10. August dieses Jahres wurden sie von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Zehn Tage später wurden sie weiter nach Riga abtransportiert, wo sie wahrscheinlich am 23. August ermordet wurden.

© HDCA, 2012 

Aus dem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen

* Tue stets, als würdest du das Leben ernst nehmen. Die Klugen halten dich, falls sie es glauben, für vertrauenswürdig; glauben sie es nicht, für klug.

* Neigst du zum Exzentrischen, Überschwenglichen, so gestatte dich dir nur für den Privatgebrauch. Publikum würde dich schnell albern finden.

* Wer, kaum eingetreten ist, aller Augen sofort auf sich lenken will, ist entweder von Beruf Schauspieler oder ein erbärmlicher Stümper.

* Schweige nur dann lange, wenn du die Situation vergiften willst.

* Wortkarge Menschen sind im allgemeinen schwer zu behandeln. Behandle sie gar nicht: sie werden die Sprache wiederfinden.

* Will es dir nicht gelingen, über einen Menschen ins Klare zu kommen, so versuche, ihn dir nackt vorzustellen. Fällt diese Vorstellung zu seinen Gunsten aus, so hast du immerhin schon einen Schimmer von ihm.

* Wenn du nicht schön bist, so hast du es überall doppelt schwer. Sehr oft aber wirst du die Hälfte deiner Kräfte sparen können, wenn du eine schöne Person neben dich stellest und, falls es erforderlich sein sollte, an deiner Statt zurücklässt.

* Die Kleidung lässt nur dann einen Rückschluss auf den Träger zu, wenn es überhaupt nicht schwer fällt, diesen zu beurteilen. Wo du also Grund hast, anzunehmen, einen Kerl vor dir zu haben, übersieh vorerst seine Kleidung gänzlich. Hinterher vermag sie dir vielleicht etwas zu sagen.

* Durch nichts machst du dich schneller verdächtig als durch einen unbürgerlichen Lebenswandel, ohne dass es möglich wäre, zu erkennen, wo sein Vorteil liegt. Streue aus, dass du auf der Suche nach tüchtigen Automobil-Agenten seist, und alle Welt wird dir hoffieren.

* Sage niemals, auch wenn es der Fall ist, dein Smoking stamme aus Piccadilly. Man würde es dir nicht glauben, wenn du die Rechnung vorwiesest.

* Die Mode der schwarzen Hornbrillen, welche der Funktion obliegt, Geist anzuschminken, steht durchaus neben jenen Vollbärten, die aus dreißigjährigen Halunken fünfzigjährige Respektspersonen machen. Verzichte auf solche Kindereien, welche dir weniger Vertrauen eintragen als eine gut gewählte und raffiniert gebundene Krawatte.

* Schmutzig einherzugehen darfst du dir nur in sehr gefährlichen Fällen gestatten.

* Sei so kokett, wie es nur angeht. Aber sehr darauf bedacht, dass niemand es bemerkt. (Excepté: Unterwäsche und Kenner der großen Groteske.)

* Bei der Wahl deiner Kleidung lasse dich nur von deinem Privatgeschmack leiten. Er wird dir das Höchstmaß von Wirkung dadurch sichern, dass du dich in deiner Hülle nicht nur auf der Höhe fühlst, sondern überhaupt wohl. Denn auch, was im Allgemeinen nicht gefällt, wirkt, wenn es gut getragen wird.

* Zu Verkleidungen greife selten. Sie färben stets ein wenig auf dich ab.

* Bleibe in deiner Kleidung bei dem dir vorteilhaftesten Grundtypus, den du nur durch jene Modedetails variieren darfst, die für dich sich eignen. Sei lieber ein wenig unmodern als reduziert.

* Wenn dein Gesicht nichts weiter zu tun hat, wahre darauf stets einen leichten Schimmer angenehmer Unzufriedenheit.