11.10.12

Eine Schule fürs Auge: „The Sartorialist - Closer“

„Warum sind die Pariser Modeschauen so besonders?“ – fragt man im Film Bill Cunningham New York den legendären Modefotografen. Cunningham, der seit sechzig Jahren das Modegeschehen fleißig, ja sogar systematisch für den New York Times registriert, sagt mit ehrfürchtiger Miene, als spräche man über ein biblisches Mysterium: „Weil Paris das Auge erzieht“.

Auch die Bilder von Scott Schumans Blog The Sartorialist erziehen das Auge, obwohl zu einer etwas anderen Art von Schönheit als die der Pariser Modeschauen. 2005 fing Schuman an, auf den Straßen von New York Bilder von Menschen und ihrer Kleidung zu sammeln und veröffentlichen. 2009 erschien sein erstes Buch mit Bildern aus dem berühmten Blog. Das Buch wurde schnell zu einem Verkaufserfolg. Nun ist ein zweiter Sammelband erschienen: The Sartorialist: Closer (New York: Penguin, 2012). Die neue Anthologie enthält etwa 500 Bilder aus den Jahren 2009 bis 2012, die Schuman in New York, Paris, Florenz, Seoul, Madrid oder London aufgenommen hat. Wie schon zuvor der erste Band, hat dieser zweite das Zeug dazu, zu einem Klassiker der zeitgenössischen Modefotografie werden. Inzwischen ist The Sartorialist der Inbegriff des 'Street-Style'-Blogs und zählt 14 Millionen Besuche pro Monat.



Sein Ziel, erklärt Schuman im neuen Buch, ist nicht, wie ein Reporter „darüber zu berichten, was die Leute auf der Straße tragen“. Damit unterscheidet er sich von anderen prominenten Experten des Alltags, wie August Sander mit seiner kolossalen Porträtserie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ (1925) oder eben Bill Cunningham. Diese Fotografen haben den, mehr als journalistischen, fast wissenschaftlichen Anspruch, die Realität nicht nur zu registrieren, sondern vielmehr zu dokumentieren, klassifizieren und letzten Endes verständlich zu machen. Schuman im Gegenteil möchte nur seine „eigene romantische Annäherung zu dem“, was er auf der Straße sieht, aufnehmen. Was das genau heißen soll, ist unklar. Tatsache ist, dass es funktioniert. Man schaut sich die Bilder an, man macht es immer wieder, man analysiert sie, man lächelt und man staunt. Und immer mit dem glücklichen Gefühl: so besonders sind diese Menschen doch nicht, denen könnte man jeden Tag auf der Straße begegnen.

Die wenigsten Bilder zeigen 'fashionable' Gesellschaftslöwen, exotische Schönheiten oder sogenannte 'schräge Vögel'. Es sind ziemlich normale Menschen, die Schuman da zur Schau stellt: eine alte Frau in kariertem Mantel und blauem Kleid; ein cooler, rauchender Kerl wie aus einem Murakami-Roman; ein spanisches Kind in adrettem Sonntagsoutfit; eine hinreißende Motorradfahrerin. Das ist genau, was die Faszination des Sartorialist ausmacht: Es geht um Alltagsschönheit, darum, wie einfach es sein kann, im Alltag Schönheit zu entdecken. Dies zu erkennen und, warum nicht, zu wagen, sich selbst auszuprobieren – dazu ermuntern uns diese Bilder.


In den letzten Jahren wurden Schumans Bilder, die auch in Zeitschriften wie GQ, Vogue oder Interview regelmäßig erscheinen, u.a. im Victoria and Albert Museum in London und dem Metropolitan Museum of Photography in Tokyo ausgestellt. Und seine Bücher haben eine lukrative Welle in der Welt der Mode angetrieben: Blogbilder in Buchform zu veröffentlichen. Zwei Beispiele sind die Druckausgaben der Blogs Style Diaries: World Fashion from Berlin to Tokyo und Facehunter (2010).

Alle Bilder, die in den Sartorialist-Büchern erscheinen, sind im Blog zu finden. Doch scheint ihre Veröffentlichung im Buch Ihnen eine Realität, ein Gewicht zu verleihen, die sie auf dem Bildschirm nicht haben. Der erste Sartorialist-Band ist seit einigen Jahren ein Kult-Objekt und der zweite wird es bestimmt auch werden: die „Limited Edition“ des ersten Buches kostet inzwischen 400 EUR, die des zweiten (noch) 170 EUR. Was sagt uns das über die Zukunft des gedruckten Buches? Keine Ahnung. Die Bilder, die in diesen Büchern enthalten sind, sind auf jeden Fall, wie auch die der prächtigen Modeschauen in Paris, eine Erziehung des Auges – nur dass sie zum Entdecken einer Schönheit erziehen, die überall ist. Und sie sprechen vom Vergnügen. Von einem, das wir, die so gern sprechen, schreiben, grübeln, nachdenken, oft vergessen: das Vergnügen des Sehens.
© HDCA, 2012